Die vorliegende Untersuchung hatte das Ziel, den kenntnisstand über die Ökologie und die Reproductionsbiologie der Geschwisterarten Waldspitzmaus (Sorex araneus) und Schabrackenspitzmaus (Sorex coronatus) zu erweitern und somit zum Verständnis ihrer Verständnis ihrer Verbreitung Beizutragen.
Auf der Grundlage von mehr als 12.000 Individuen konnten Verbreitungskarten von Sorex araneus und Sorex coronatus erstellt werden, aus welchen ersichtlich wird, dass beide Arten in Baden-Württemberg fast überall sympatrish verbreitet sind.
Die Untersuchung verschiedener Populationen zeigte, das Sorex araneus und Sorex coronatus Gebiete auch gemeinsam besiedeln können, jedoch dominiert in den einzelnen Lebensräumen stets eine von beiden Arten. Kleinräumig leben ihre Populationen streng getrennt nebeneinander.
Aus einer Lebensraumanalyse ging hervor, dass Sorex araneus in Baden-Wünttemberg keine naturräumlichen oder klimatischen Präferenzen hat. Das bedeutet, das Sorex arameus grundsätzlich sämtliche Lebensräume besiedeln könnte, aus solche, die von Sorex coronatus besetzt sind. Die Analyse zeigte ferner, dass Standorte mit sehr kurzer frostfreier Periode oder mit Bodenfrost noch vor September für Sorex coronatus nachteilig sind. Sorex araneus war signifikant häufinger an Standorten mit den sonnenreichen Expositionen SW, S, SO und O anzutreffen Sorex coronatus hingegen an solchen mit den sonnenärmeren Expositionen N, NW, und W. Sorex araneus bevorzugte zudem lichtreichere, Sorex coronatushingegen lichtärmere Waldstandorte. Von einer Totholzpräferenz bei Sorex araneus abgesehen, zeigten beide Arten in ihren Ansprüchen an die Habitatausstattung (Boden-parameter, Vegetation, strukturelles Angebot) keine weiteren Unterschiede.
Die vorliegenden Befunde widerlegen die in der Literatur mehrfach geäußerte Vermutung, dass Sorex araneus durch Sorex coronatus aus den günstigen Lebensräumen verdrängt wird. Vielmehr besteht der Verdacht, dass sich Sorex coronatus gegeb die körperlich überlegene und deutlich aggressivere Art Sorex araneus nur bei einem zahlenmäßigen Übergewicht aus eimer höheren Populationsdichte behaupten kann.
Morphometrische und parasitologische Befunde unterstreichen die Vermutung von STOCKLEY U. SEARLE (1998), wonach Sorex araneus eine promiskuitive Paarungsstrategie verfolgt und Sorex coronatus fakultativ monogam ist. Zwischen den Männchen beider Arten konnten erhebliche Unterschiede in der Hodengröße (Spermienkonkurrenz bei Sorex araneus!) Penislänge, Seitendrüsengröße und in der Parasitierung durch Zecken der Gattung Ixodes festgestellt werden.
Die reproduktionen im Labor belegen, dass sich Sorex araneus und Sorex coronatus weder in der Dauer der Gestation noch in der Laktation unterscheiden. Beide Arten sind in der Lage, die Reproduktion durch mehrfachen postpartum oestrus zu optimieren. Die gestationszeit wurde bei zeitgleicher Laktation nach einer postpartum erfolgten Begattung um wernige Tage ausgedehnt.
Es gibt Hinweise, dass Sorex coronatus eine höhere Lebenserwartung hat als Sorex araneus. Deshalb bringen Sorex araneus - Weibchen in der regel 2-3 Würfe (mit durchschnittlich 6,7 Jungtieren) und Sorex coronatus - Weibchen häufiger 3-4 Würfe (mit durchschnittlich 5,6 Jungtieren) hervor.
Der von Gebiet und Jahr unabhängige, für Sorex coronatus typische "Spätsommer/Herbst - Gipfel" (Letzter Wurf) geht nicht auf juvenile Individuen zurück, die sich bereits in ihrem Geburtsjahr an der reproduktion beteiligen.
Anhand der vorliegenden Ergebnisse werden hypothetische Populations-Entwicklungen formuliert. Aus diesen geht hervor, dass ein zahlenmäßiges Übergewicht von Sarex coronatus nicht, wie LOPEZ-FUSTER (1989) vermutet hat, aus einem früheren reproduktionsbeginn hervorgeht sondern aus einer Unterschiedlichen Paarungs- und Reproduktionsstrategie, wobei Sorex coronatus bei atlantischen und Sorex araneus bei kontinentalen Klimabedingungen in einem Lebensraum dominiert.
Die seitendrüsen der tendenziell monogamen Sorex coronatus - Männchen 17 % länger als bei den Sorex araneus - Männchen. Eine gaschromatographische und massenspektrometrische Analyse des Seitendrüsensekretes zeigte, dass das Sekret vorwiegend schwerflüchtige hochmolekulare Substanzen enthält, wobei Tricaprylin möglicherweise eine bedeutende Rolle spielt. da bei derAnnäherung an das Weibchen jedoch leichtflüchtige Substanzen erforderlich sind, hat das Seitendrüsensekret nicht die Funktion, dem Weibchen den richtigen Partner zu signalisieren. Vielmehr wird es bei der Markierung des territoriums benötigt und dient dazu, ankeren Männchen (Konkurrenten) die Anwesenheit eines sexuell aktiven Männchens anzuzeigen.
Haltungversuche im Labor sowie die Präparation von Alkoholmaterial in Zusammenhang mit der Auswertung von Wetterdaten widerlegten die Vermutung, dass das Licht als Induktor für die geschlechtsreife im Frühjahr eine Rolle spielt. Der Reifeinduktor im Frühjahr ist, das konnte durch die vorliegende Untersuchung erstmals gezeigt werden, eine etwa 5 Tage andauerdne Wärmeperiode im "Vorfrühjahr". Möglicherweise ist der Gradient und nicht die absolute Temperaturhöhe dafür verantwortlich. Durch die Wärmeperiode in Gang gesetzt, ist der reifeprozess nicht mehr aufzuhalten, unabhängig vom weiteren temperaturverlauf. Da dieser Reifeinduktor auch für die Sumpfspitzmaus (Neomys anomalus) Gültigkeit hat, wie ein weiterer Versuch zeigte, ist anzunehmen, dass hier eine Gesetzmäßigkeit für die reifeinduktion bei den Soricinae (Rotzahnspitzmäuse) entdeckt wurde. Die Wärmeperiode löst bei den meisten Individuen einer lokalen Population die Geschlechtsreife zum selben Zeitpunkt aus. damit ist auch eine plausible Antwort auf STOCKLEY's (1996) Frage nach der Ursache des synchronen Oestrus zu Beginn der reproduktionsperiode gefunden.
Sorex araneus- Männchen waren etwa 14 Tage vor den Weibchen reif; der Reifeprozess dauerte bei ihnen insgesamt kaum länger als 4 Wochen.
Aus einer Beobachtung unter Laborbedingungen konnte geschlossen werden, dass die vorzeitige Reifeentwicklung der Jungtiere im Geburstjahr durch die Annwesenheit dominanter adulter, sexuell aktiver Tiere unterdrückt werden kann.
Die Erfassung des potetniellen Nahrungsangebotes im Jahresverlauf in den Reproduktionshabitaten beider Arten sowie Analysen der Mageninhalte und Fütterungsversuche ergaben keine wesentlichen Unterschiede im Nachrungspektrum beider Arten. In erster Linie greifen beide auf Lumbriciden und Gastropoden sowie auf Insektenlarven bzw. -puppen zurück; zur Beikost gehören Araneae, Chilopoden und Coleopteren.
Aus der vergleichenden Untersuchung der Därmlangen ging hervor, dass Sorex araneus über einen um 11 % längeren Darm als Sorex coronatus verfügt, bei nahezu gleicher Körpergröße. da sind das Nahrungsspektrum beider Arten kaum unterscheidet, kann der Darmlängenunterschied nicht mit einem unterschiedlichen Nahrungsspektrum zusammenhängen. Vielmehr liegt die Bedeutung des Längenunterschiedes im Vorteil für Sorex araneus, durch effezientere Nachrungsverwertung auch Lebensräume mit zeitweilig ungünstigem Nachrungsangebot besiedeln zu können.
Während der Geschlechtsreife verlängert sich der darm bei Sorex araneus- Weibchen um 18,9 % und bei Sorex coronatus - Weibchen um 16,9 %. Dieser Zuwachs, der nur bei adulten Weibchen zu beorachten war, vollzieht sich innerhalb von etwa 4 Wochen. Er steht wahrscheinlich im Zusammenhang mit dem drastisch erhöhten Energiebedarf während der Laktationszeit.
Parazitologische Befunde deuten darauf hin, dass Sorex araneus und Sorex coronatus die Funktion des obligatorischen zweiten Zwischenwirtes des in Eulen parasitierenden Nematoden Porrocaecum spirale übernehmen.
Abschließend wurde unter Einbeziehung aller gegebwärtig bekannten Unterschiede zwischen beiden Arten mit Hilfe eines von Haffer(1998) entwickelten Schemas der Abstand ermittelt, den Sorex coronatus als vermutlicher Abkömmling des Chromosomenrassen-Komplexes Sorex araneus auf dem Weg zur eigenen Art inzwischen erreicht hat.
Angeregt durch eine Publikation von FREGDA (1987) wurde eine Alternativmethode zur Herstellung von Cromosomenpräparaten bei Spitzmäusen entwickelt, die weder das Töten der Tiere noch größeren technischen Aufwand im Freiland oder im labor erfordert.